Neusser Forschungsteam und Vera Wollenberger (beide Deutschland)
Neusser Forschungsteam (Deutschland)
Auszug aus der Laudatoren-Rede von Dr. Ulrich Wendelin-Schröder (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut des DGB in der HBS):
Viola Adelt und Angela Bertram sind Krankenschwestern, Dr. Brigitte Ludwig, Norbert Neumann und Dr. Bernd Richter sind Ärzte und Andrea Oppermann ist Sachbearbeiterin. Sie alle arbeiteten im Bereich Humanpharmakologie der Neusser Filiale des Pharmakonzerns Beecham. Die letzte Aufgabe des Neußes Teams bei Beecham, einem internationalen Pharmakonzern, bestand in der Erforschung eines Medikaments, das bei radioaktiver Bestrahlung, wie sie z. B. bei der Krebstherapie angewandt wird, den Brechreiz der Patienten lindern soll. Zum Konflikt kam es, als die Forscher erfuhren, daß in firmeninternen Dokumenten auch der militärische Bereich als potentieller Absatzmarkt ins Auge gefaßt war. In diesem Fall wäre das Medikament einsetzbar gewesen, um in einem Atomkrieg nuklear verstrahlte Soldaten – für begrenzte Zeit – für wenige Tage – kampffähig zu erhalten.
Das Neusser Team war über diese Perspektive entsetzt. Als Gespräche mit den Verantwortlichen im Unternehmen fruchtlos blieben, verweigerten sie die Arbeit an diesem Medikament. Dies führte zur Kündigung von Brigitte Ludwig und Bernd Richter und wenig später auch von Viola Adelt und Angela Bertram. Norbert Neumann und Andrea Oppermann verließen die Firma von sich aus.
Dann folgte ein langer, ein jahrelanger „Kampf ums Recht“: in der festen Überzeugung, nicht falsch, sondern richtig gehandelt zu haben, klagten die Gekündigten gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber. Ohne Erfolg in der ersten Instanz, ohne Erfolg auch in der zweiten Instanz, aber dann – endlich – erfolgreich vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel. Dieses entschied im letzten Jahr, daß das freie Gewissen des Einzelnen auch im Arbeitsverhältnis zu respektieren ist und daß der Arbeitgeber dieses Grundrecht der Arbeitnehmer bei der Zuweisung von Arbeiten zu berücksichtigen hat.
Damit war klar, daß das Neusser Team keinen Arbeitsvertragsbruch begangen hatte, sondern daß alle „ihr gutes Recht“ durchgesetzt hatten. Allerdings sind damit die Rechtsstreitigkeiten noch nicht ganz abgeschlossen: als Rechtsmittelinstanz hat sich das Bundesarbeitsgericht nicht in der Lage gesehen, die Kündigungen als unrechtmäßig zu verwerfen und den Betroffenen ihren Arbeitsplatz wiederzugeben – es hat den Rechtsstreit vielmehr zur erneuten Verhandlung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Trotzdem ist mit dem Sieg des Neusser Teams vor dem Bundesarbeitsgericht sehr viel mehr geschehen, als daß vom höchsten Gericht in Arbeitssachen richtig Recht gesprochen worden wäre. Es hat sich gezeigt, daß man sich auch dort Spielräume für verantwortungsbewußtes Handeln erkämpfen kann, wo viele das für ganz unmöglich halten. Wer kennt nicht die populären Zustandsbeschreibungen der Arbeitswelt in Äußerungen wie „wes‘ Brot ich eß, des‘ Lied ich sing“ oder „die Demokratie endet am Werkstor“. Dahinter steckt nichts anderes als die jahrzehntelange Erfahrung der umfassenden Fremdbestimmung in der abhängigen Arbeit. Diese Fremdbestimmung kann man heute – dies ist jedenfalls meine feste Überzeugung – so nicht mehr hinnehmen. Wir leben in einer Phase der gesellschaftlichen Entwicklung, in der die Tätigkeit eines Einzelnen mit dazu führen kann, daß ganz unverantwortbare Zustände entstehen. Man denke hier nur an die Dimensionen der Kriegsgefahr im Nuklearzeitalters, aber auch an die möglichen Konsequenzen des „Krieges gegen die Natur“.
In einer solchen Zeit kann man es nicht dem einzelnen Arbeitgeber oder dem Prinzip der Profitmaximierung überlassen, festzulegen, was produziert wird. Ob der Einzelne das will oder nicht – in einer Gesellschaft, die durch ganz neue und umfassende Risiken gekennzeichnet ist, entstehen auch ganz neue und umfassende Verantwortlichkeiten. Diese können weder am Werkstor noch an der Labortür enden.
Niemand wird verkennen, daß so etwas viel leichter gesagt als getan ist! Aber ich denke, daß gerade das Neusser Team gezeigt hat, daß verantwortungsbewußtes Handeln auch in der abhängigen Arbeit möglich ist.
Basis eines solchen Handelns ist gewiß etwas ganz höchstpersönliches: moralische Integrität und die Kraft, sich von dem eigenen Gewissen wirklich leiten zu lassen. Ohne Menschen, die diese Zivilcourage aufbringen, werden sich Freiräume für verantwortliches Handeln auch im Betrieb nicht nutzen lassen.
Aber es ist sicher auch wichtig, daß man dann „wenn es ernst wird“ nicht ganz allein steht. Auch insoweit läßt sich vielleicht aus den Erfahrungen des Neusser Team lernen: da gab es innerhalb der Gruppe mehr als Kollegialität, es gab so etwas wie Teamgeist, da gab es die Unterstützung durch die Gewerkschaft, die u. a. in allen Instanzen Rechtsschutz gegeben hat, da gab es die Unterstützung durch die Vereinigung der Ärzte für den Frieden (IPPNW), die u. a. ein ausführliches Rechtsgutachten finanziert hat, da gab es eine engagierte Rechtsvertretung und da gab es die Unterstützung durch die örtliche Friedensinitiative.
Dieses aus der unmittelbaren Solidarität mit den Betroffenen entstandene Netz der Unterstützung hat sicher mit dazu beigetragen, daß die Neusser Gruppe über Jahre hinweg ihre Position wahren und vertreten konnte und letztlich in ihrem Konflikt erfolgreich war.
Und so erhält das Neusser Team den Aachener Friedenspreis nicht nur deshalb, weil
alle in der Gruppe in bewundernswerter Weise Zivilcourage und Mut bewiesen haben. Sie erhalten den Aachener Friedenspreis auch, weil sie durch ihr Beispiel ermutigen.
Denn Mut brauchen wir alle, wenn wir nicht resignieren wollen, sondern uns dafür einsetzen, daß uns und unseren Kindern ein Leben in Frieden miteinander und in Frieden mit der Natur möglich ist.
Vera Wollenberger (Deutschland)
„Frau Vera Wollenberger (geborene Lengsfeld) aus Berlin/DDR, erhält den Aachener Friedenspreis stellvertretend für alle diejenigen, die in der DDR schon seit Jahren Friedensarbeit „von unten“ geleistet haben und damit die friedliche Revolution erst auf den Weg brachten.“ (Albrecht Bausch, Vorsitzender des Aachener Friedenspreises 1990 in seiner Begrüßung).