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Aachener Friedenspreis 2021 für Antirassismusarbeit nach den Morden von Hanau und interreligiöse Solidarität unter Frauen in Nigeria

Am 21.09.2021, dem Internationalen Friedenstag, gibt der Aachener Friedenspreis e.V. seine diesjährigen Preisträger*innen bekannt. Die Mitgliederversammlung kürte die Trägerinnen und Träger des Preises am 01.09.2021, dem Antikriegstag, der üblicherweise das Datum der Preisverleihung ist. Gewählt wurden drei Gruppierungen aus zwei Zusammenhängen, die sich trotz eigener Betroffenheit und Traumata für Frieden, Sensibilisierung und Aufklärung einsetzen.

Die Preisverleihung wird am Samstag, dem 13.11.2021 stattfinden. Der Verein strebt eine hybride Veranstaltung mit Livepublikum in der Aula Carolina und einem Streaming-Angebot oder einer nachträglich online verfügbaren Aufzeichnung an. Wie genau sich alles umsetzen lässt, befindet sich noch in Planung.

Initiative 19. Februar Hanau und Bildungsinitiative Ferhat Unvar

„Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen!“ sind ihre Forderungen. Bei Mahnwachen, Kundgebungen und Beerdigungen versprachen sich die Angehörigen der Opfer der rassistischen Morde vom 19. Februar 2020 in Hanau, einander nicht allein zu lassen und die Namen der Opfer nicht dem Vergessen preiszugeben. Um ihrer Solidarität und den Forderungen nach Aufklärung und politischen Konsequenzen einen dauerhaften Ort zu geben, gründeten sie die Initiative 19. Februar Hanau. Der alltägliche Rassismus in der vermeintlich so offenen deutschen Gesellschaft, verkörpert durch einen rechtsextremen Verschwörungsideologen, tötete neun Menschen mit migrantichen Wurzeln in und vor einer Shisha-Bar, einer weiteren Bar sowie einem Kiosk und anschließend seine eigene Mutter. Sie starben alleine im Krankenhaus, wurden ohne Einwilligung obduziert und Kontakt zu den Toten gab es in einigen Fällen erst eine Woche nach der Tat.

Die Angehörigen von Gökhan Gültekin, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Welkov, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu und Said Nesar Hashemi fordern eine lückenlose Aufklärung und Konsequenzen. Sie decken Fehlverhalten der Sicherheitskräfte in der Tatnacht auf und kritisieren Ämter wegen bürokratischer Kälte, Verfahrensfehlern und Untätigkeit. Sie fragen, wieso die Staatsanwaltschaft nicht schon vor der Tat gegen den Täter ermittelte, obwohl seine antisemitischen Schriften vorlagen? Wieso durfte er, obwohl polizeibekannt, legal Waffen besitzen? Wieso wurde den Opfer-Angehörigen nicht kommuniziert, dass der ideologisch ähnlich verortete Vater des Täters die Herausgabe der Mordwaffe forderte? Wieso werden die Angehörigen nicht vor diesem Mann geschützt sondern ihrerseits aufgefordert, sich ihm nicht zu nähern, als ginge die Gefahr von ihnen aus?

Die Initiative will bewirken, dass derartige Ereignisse sich nie mehr wiederholen können. Sie adressieren wieder und wieder den strukturell-institutionellen Rassismus, der in Deutschland zum Normalzustand geworden ist. Zum ersten Jahrestag der Morde rief die Initiative trotz der Pandemie zu bundesweiten, kreativen Aktionen auf, um Protest gegen Rassismus auszudrücken. In unmittelbarer Nähe zu einem der Tatorte, in der Hanauer Krämerstraße 24, gründete die Initiative zudem ein soziales Zentrum als Ort für Begegnung und Beratung.

Am 14. November 2020 gründete Serpil Temiz Unvar, die Mutter eines der Mordopfer, die nach ihrem Sohn benannte Bildungsinitiative Ferhat Unvar. Die Initiative leistet Empowerment- und Aufklärungsarbeit gegen Rassismus. Dafür bietet sie u.a. in Schulen antirassistische Workshops an. Sie ist aber auch eine Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche mit Rassismus-Erfahrungen sowie deren Eltern. Geprägt von ihren persönlichen Erfahrungen möchte Serpil Temiz Unvar Jugendliche stärken, damit sie „Chancengleichheit einfordern können“. Lehrerinnen und Lehrer unterstützt sie durch Sensibilisierungsworkshops.

Die Gründungen des Begegnungszentrums und der Bildungsinitiative sind über Jahre mit immensen Kosten verbunden. Gerade in der Startphase sind öffentliche Unterstützung und Aufmerksamkeit dafür unverzichtbar, da beide Initiativen sich komplett aus Spenden finanzieren. Gemeinsam sorgen sie dafür, dass rassistische Morde im Bewusstsein aller bleiben, damit sich das gesellschaftliche Klima verändert und rassistische Ressentiments nie wieder Menschenleben kosten. Bildung, Verständigung und Erinnerung als Weg zu friedlicher Veränderung sind essentiell, damit Konsequenzen gezogen werden und keine Verharmlosung von Rassismus und rechtem Terror mehr möglich ist. „Angehörige von Opfern sind oft traumatisiert und müssen Tag für Tag um ihre Entschädigung kämpfen. In dieser Situation nicht im eigenen Leid zu verharren sondern die gemeinsame Zukunft aller Menschen in den Blick zu nehmen, ist bemerkenswert“, kommentiert Lea Heuser, Pressesprecherin des Aachener Friedenspreis e.V.

Der Aachener Friedenspreis für die Initiative 19. Februar Hanau und die Bildungsinitiative Ferhat Unvar möchte die mutigen Schritte der Angehörigen stärken und ein öffentliches Zeichen der Solidarität und Unterstützung setzen. „Wir müssen uns jeden Tag selbst reflektieren, wo auch wir rassistische Muster in uns tragen. Wir dürfen aber auch die Verharmlosung von rechten Umtrieben nicht länger tolerieren“, erklärt Benedikt Kaleß vom Vorstand des Aachener Friedenspreis e.V. mit Blick auf die offen auftretenden Neonazis bei Demonstrationen von Pandemieleugner*innen sowie die bevorstehende Bundestagswahl, bei der auch Rassistinnen und Rassisten auf den Wahlzetteln stehen. Es ist wieder an der Zeit, öffentlich dagegen aufzustehen und für ein solidarisches Miteinander zu streiten. Ganz nach der Initiative 19. Februar: „Wir wollen diesen Raum mit allen gestalten, egal welchen Pass, welche Hautfarbe oder welche Religion wir haben.“ und der Bildungsinitiative Ferhat Unvar: „Wir stehen für einen Raum der Aufklärung, des Zusammenhalts, der Bildung und für ein friedliches Zusammenleben mit einer Vielfalt an Religionen, Kulturen und Nationalitäten.“

Mütter für eine Kultur des Friedens: die interreligiöse Fraueninitiative „Women’s Interfaith Council (WIC)“ aus Kaduna in Nigeria

Sie wollen nicht länger Opfer sein. Das Women’s Interfaith Council (WIC) setzt sich seit 2010 in der Krisenregion Kaduna für ein gewaltfreies Zusammenleben zwischen Christ*innen und Muslim*innen ein. Viele der Frauen sind Witwen, die mitansehen mussten, wie ihre Ehemänner und Kinder ermordet wurden. Gemeinsam wollen sie den Teufelskreis der Gewalt durchbrechen. Gezielt wenden sie sich gegen den Missbrauch ihrer Religion für politische Zwecke und fordern Mitsprache beiEntscheidungsprozessen in ihren männer#dominierten Gemeinschaften. „Weder das Christentum noch der Islam unterstützen, dass Gläubige getötet, entmenschlicht oder erniedrigt werden. Wir haben gemeinsame Werte. Sie alle führen uns zum Frieden“, sagt Amina Kazaure, Leiterin des Gesamtprogramms.

Nach Anschlägen auf Dorfgemeinschaften oder Einzelpersonen suchen christliche und muslimische Frauen des Women’s Interfaith Council, (WIC) Betroffene auf und kümmern sich um die Opfer. Sie leisten emotionalen Beistand und organisieren mit ihren begrenzten Mitteln Hilfe. Neben diesen Einsätzen vor Ort organisiert WIC jedes Jahr ein umfangreiches Workshop-Programm für Frauen, Jugendliche und Religionsführer, um präventiv Gewalt zu verhindern. Themen sind Friedensbildung, Konfliktanalyse und -transformation, genauso wie interreligiöse Verständigung.

Seit mehr als vier Jahrzehnten entladen sich im Bundesstaat Kaduna in der nördlichen Mitte Nigerias immer wieder gewaltsame ethnisch-religiöse Konflikte. Tausende Menschen sind bereits dabei gestorben. Kaduna ist heute eine geteilte Stadt bzw. ein geteilter Bundesstaat: Christ*innen leben in den Vierteln im Süden, Muslim*innen im Norden. Die Gewalt hat das einst gute Verhältnis zwischen den beiden Religionsgemeinschaften schwer beschädigt. Ursächlich geht es bei den Zusammenstößen meist um Ressourcen, aber auch um politische Macht und die Wahrung von Privilegien. Die zunehmende Klimaerwärmung verschärft Konflikte um Ackerland und Weideflächen zwischen Bauern und nomadischen Viehhirten. Hinzu kommt das rasante Bevölkerungswachstum des jetzt schon bevölkerungsreichsten Landes Afrikas.

Bei einem schwerbewaffneten Angriff auf Bauerndörfer im Landkreis Kajuru nahe der Stadt Kaduna erlebten Bewohner*innen 2019, wie ihre Familienangehörigen erschossen, mit Macheten getötet oder verstümmelt wurden. Rahila Godwin versuchte vergeblich, mit ihren zwei Kindern zu fliehen. Ihr achtjähriger Sohn wurde vor ihren Augen ermordet. Mit einer Machete hackten die Täter ihr den Unterarm ab. Rahilas vierjährige Tochter Peace musste alles mitansehen und ist seither schwer traumatisiert. Fast jeder im Dorf kann ähnliche Geschichten erzählen, Häuser, Ernten und Gewerbe sind vernichtet. Fast täglich kommt es zu brutalen Überfällen mit Toten. Oft entführen kriminelle Banden einfache Menschen, um von Angehörigen Geld zu erpressen.

Mehrfach haben Frauen des WIC die Dörfer trotz der riskanten Autofahrt durch die unsichere Region bereits aufgesucht. Seit dem Anschlag halten sie den Kontakt mit der Dorfgemeinschaft in Kajuru, aber auch zu anderen betroffenen Siedlungen. Viele Gemeinschaften haben Ähnliches erlebt. Für Frauen wie Rahila Godwin und ihre Tochter Peace konnte WIC sichere Unterkünfte in Kaduna finden. Die Initiative half ihr, einen kleinen Straßenstand einzurichten. Auch Armprothesen für Rahila Godwin und andere Frauen konnte WIC beschaffen. Für betroffene Gemeinschaften in Kajuru organisierte WIC ein Ärzte- und Schwesternteam für die medizinische Versorgung, aber auch für psychologische Hilfe. Zu Treffen erscheinen meist viel mehr Betroffene als erwartet, um von ihren Traumata und Erfahrungen zu berichten. Für die am schwersten traumatisierten Menschen konnte das Team von WIC therapeutische Hilfe in einem Krankenhaus organisieren.

Das WIC entstand im Jahr 2010 auf Initiative der irischen Ordensfrau Kathleen McGarvey. Sie wollte gemeinsam mit den Frauen in Kaduna die tiefen Gräben zwischen den Gemeinschaften überwinden, wofür sich einflussreiche Frauen beider Religionen begeistern ließen. Heute besteht die von Laiinnen getragene Initiative aus 23 christlichen und muslimischen Frauenverbänden mit insgesamt rund 12.650 Frauen. Als McGarvey nach Irland zurückkehrte, übernahm 2019 die Nigerianerin Schwester Veronica Onyeanisi die Hauptgeschäftsführung. Elisabeth Abuk ist die christliche Koordinatorin und die Muslimin Amina Kazaure leitet das Gesamtprogramm. Das WIC ist eine Nichtregierungsorganisation, wird finanziell von der „King Abdullah bin Abdulaziz International Centre for Interreligious and Intercultural Dialogue“ (KAICIID) sowie dem katholischen Hilfswerk „missio Aachen e.V.“ unterstützt und ist mit zahlreichen Friedensorganisationen vernetzt.

Der Aachener Friedenspreis für das WIC möchte den interreligiösen Dialog als Weg des friedlichen Zusammenlebens betonen sowie den Mut und die Entschlossenheit der Frauen unterstützen, die sich in der patriarchalischen Gesellschaft Nigerias behaupten und füreinander einsetzen.
„Wir wollen mit der Auszeichnung alle Frauen des Women’s Interfaith Council ermutigen und das Ansehen der Initiative innerhalb Nigerias und international stärken“, sagt Lea Heuser. „Das Schicksal und mutige Handeln der vielen Frauen, die sich trotz Gewalterfahrungen unermüdlich für ein friedliches Zusammenleben von Christ*innen und Muslim*innen stark machen, wird gesehen und wertgeschätzt.“

Hintergrund:

Seit 1988 zeichnet der Aachener Friedenspreis e.V. alljährlich Menschen und Gruppen aus, die an der Basis und oft aus benachteiligten Positionen heraus für Frieden und Verständigung arbeiten. Die Kriterien sind Teil der Gründungserklärung des Vereins“. Geehrt werden vor allem noch unbekannte Projekte oder Personen, die durch die öffentliche Aufmerksamkeit genauso viel Unterstützung erfahren wie durch das Preisgeld von jeweils 2.000 Euro. Eine Auszeichnung mit dem Aachener Friedenspreis verschafft Initiativen, die für den Frieden arbeiten nicht nur öffentliche Aufmerksamkeit sondern schützt bedrohte und in schwierigen Bedingungen arbeitende Gruppen dadurch auch vor Repressionen und Gewalt.

Der Preis ist meist zweigeteilt und geht entsprechend an zwei verschiedene Initiativen oder Einzelpersonen, die sich von unten für Frieden und Dialog zwischen Konfliktparteien einsetzen. Wer den mit jeweils 2.000 Euro dotierten Preis erhält,  entscheidet die Mitgliederversammlung des Vereins. Vorschläge kann aber jeder interessierte Mensch einbringen, egal ob Vereinsmitglied und egal ob aus Aachen oder nicht. Aus den eingehenden Vorschlägen wählt der Vorstand die fünf förderungswürdigsten aus und legt sie der Mitgliedschaft vor. Die Mitgliederversammlung wählt dann die letztendlichen Preisträgerinnen oder Preisträger.